Fahrende Pferde

Von Lars Erik Zeige | May 1, 2019

Bild Zaubersprüche

Phol ende Uuôdan uuorun zi holza – so beginnt der Zweite Merseburger Zauberspruch. Wörtlich: ‚Phol und Wodan fuhren zum Holz‘, ein schönes Beispiel für Bedeutungswandel, denn die beiden Götter ritten in den Wald.

Das althochdeutsche starke Verb faran (faran, fuor, gifaran) ist ein wahrer Alleskönner. Es ist in den nicht-lateinischen Teilen des Referenzkorpus Altdeutsch 585-mal belegt, mit diesen Bedeutungen:

fahren, (vorbei)gehen, sich begeben, sich aufmachen, weggehen, reisen, (einher)ziehen, (umher)eilen, (durch)laufen, fliegen, (dahin)treiben, sich (fort)bewegen, weiterschreiten, (dahin)fließen, reiten, daherfahren, anstürmen, hervorgehen, auffahren, weichen, gelangen, dringen, sich erstrecken, ergehen, verlaufen, sich vollziehen, geschehen, zugehen, (vor)kommen, kommen über, sich verhalten, handeln, ausgehen von, entschwinden, vergehen, zugrundegehen

Ahd. faran ist ein Universalverb des Sich-Fortbewegens. In den meisten Belegen des Referenzkorpus wird es für ‚gehen, reisen, wandern, ziehen, sich begeben‘ verwendet, bezeichnet also die Fortbewegung mit den eigenen Füßen, gern mit Angaben des Herkunftsorts, Ziels oder Wegs in Präpositionalgruppen oder Adverbien. Unsere heutige Bedeutung des Reisens mit einem Fortbewegungsmittel ist hingegen noch peripher und auf keine Art des Untersatzes festgelegt. So kann man mit dem Streitwagen, dem Schiff und eben auch mit dem Pferd ‚fahren‘.

Helias fuor auer uf sinemo reituuageno ze himele ‚Elias fuhr aber in seinem Streitwagen in den Himmel‘ (Npw 39,6)
Só thaz thó gihorta ther heilant, fuor thanan in skeffe in vvuosta stat suntiringun. ‚Als Jesus das hörte, zog er sich zurück; er fuhr mit dem Boot an eine einsame Stelle, um dort allein zu sein.‘ (T79,13)

Einen Rest der Bedeutungsvielfalt von faran bewahren, wie so oft, feste Wendungen bis in die Gegenwartssprache. Fragt man Was ist nur in dich gefahren?, sind die Dämonen weder mit Auto noch mit U-Bahn unterwegs. Auch wenn man aus der Haut, zur Hölle oder letztlich in die Grube fährt, bedarf es keiner Verkehrsmittel.

Eine ähnliche Bedeutungsverengung hat es im Niederländischen gegeben, wo varen heute nur noch mit Booten und Schiffen verwendet wird. Mit dem Auto ‚reitet‘ man hingegen (nl. rijden). Nur im Isländischen verfügt fara bis in die Gegenwart über eine vergleichbar weite Bedeutung. Dort kann man problemlos zu Fuß in die Bank fahren.

Belegstelle im Referenzkorpus

ANNIS-Link

Literatur

Wolfgang Beck. 2013. Merseburger Zaubersprüche, in: Rolf Bergmann (Hg.). Althochdeutsche und altsächsische Literatur. Berlin: De Gruyter. S. 258-263.
Althochdeutsches Wörterbuch Online

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