Die Schlange. Ein Wort, viele Bedeutungen

March 17, 2019

Gastbeitrag von Tom Heumann, BA Historische Linguistik, SE Althochdeutsch

Die Übersetzung des ahd. Wortes nātara scheint mit ‚Schlange‘, bzw. ‚Natter‘ recht einfach getroffen zu sein. Eine Schlange, das ist ein längliches Tier mit Schuppen und ohne Gliedmaßen; Manche haben die Fähigkeit, Gift zu produzieren und sind damit gefährlich… Was gibt es da mehr zu sagen? Der ältere Physiologus weiß sehr viel mehr zu berichten. Zum Beispiel werden die Schlangen zum Vergleichsgegenstand, wenn Jesus zu seinen Jüngern spricht: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben“.

Der ältere oder ahd. Physiologus enthält einige kurze Tierbeschreibungen (auch von Fabeltieren), deren Eigenschaften in Verbindung mit Bibelzitaten und der Trinitätslehre allegorisch-heilsgeschichtlich gedeutet werden. Das Werk entstand um 1070 n. Chr. evtl. im Kloster Hirsau und von den ursprünglich 27 Kapiteln sind heute nur noch zwölf erhalten geblieben. Es wird als ‚Lückenbüßer‘ zwischen einer Schrift des Eugenius von Toledo und einem Stück eines Vergilkommentars in einer Wiener Handschrift (Codex Vind. 223) überliefert. Der Schreibdialekt ist alemannisch-rheinfränkisch. Die Dicta Chrysostomi ist die lateinische Fassung des Physiologus und gilt als Quelle des ahd. Physiologus. Dieser stellt das erste Zeugnis einer deutschen allegorisch-naturkundlichen Literatur dar. Gegenüber der lateinischen Vorlage ist er stark gekürzt. Von der griechischen Urquelle aus dem 2. Jh. n. Chr. aus Alexandria (mit 48 Abschnitten) entstanden viele Übersetzungen bzw. Überlieferungen in andere Sprachen.

Die Etymologie des Wortes nātara ist weitgehend unbekannt. Es gehört evtl. im Sinne von ‚die sich Windende‘ zu der idg. Wurzel *(s)-, was so viel bedeutet wie ‚Fäden zusammendrehen, knüpfen, weben, spinnen‘. Im Referenzkorpus Altdeutsch wird für die Deklination des Lexems der feminine n-Stamm angegeben. Allerdings sei angemerkt, dass die Formen im Physiologus Endungsabweichungen zeigen, sodass anzunehmen ist, dass nātara sowohl schwach als auch stark dekliniert wird.

Im ahd. Physiologus ist nātara fünfmal belegt. Ein Textbeleg widmet sich den Eigenschaften der Schlange: Drīa slahta natérōn sínt ‚Schlangen haben drei Eigenschaften.‘ Althochdeutsch slahta ‚Gattung, Geschlecht‘ steht hier für lat. natura. Der ahd. Physiologus nennt nur drei der im gr. Physiologus ursprünglichen vier Gattungseigenschaften. Bei der ersten schwindet das Sehvermögen der Schlange, sobald sie altert. Fastet sie darauf vierzig Tage und Nächte lang, löst sich ihre Haut ab. Wenn sie nun durch einen löchrigen Stein kriecht, schuppt sich die Haut von ihrem Körper und sie verjüngt sich so. Im allegorischen Sinne ist damit gemeint, dass der Christ durch Fasten und strenge Zucht seines Körpers seine Sünden abwerfen kann und sich so verjüngt. Die zweite Eigenschaft der Schlange ist, dass sie, bevor sie trinkt, zuallererst ihr Gift ausspeit. Der ahd. Physiologus erklärt, dass wir, wenn wir das geistliche Wasser trinken wollen, zuerst alles Übel aus uns entfernen müssen – wir sollen den Unflat ausspeien wie die Schlangen. Die dritte Eigenschaft der Schlange wird auf Adam übertragen: Adam, der im Paradies nackt war, konnte der Teufel nichts entgegensetzen. Sobald wir uns aber bedecken mit Kleidung, springen die bösen Mächte auf uns. Wenn wir eine alte Haut tragen, sind wir nicht sicher vor ihnen, sobald wir aber nackt sind, fliehen sie vor uns. Die vierte Eigenschaft ist, dass die Schlange, wenn ein Mensch auf sie zukommt, um sie zu töten, nur ihren Kopf schützt und ihren restlichen Leib preisgibt. Das bedeutet, dass der Mensch seinen Körper dem Tode preisgeben soll, solange er nur den Kopf, seinen Glauben, schützt. Diese Eigenschaft wurde im ahd. Physiologus allerdings herausgekürzt.

Das Wort nātara wird für die Gattungs- und Eigenschaftsbezeichnungen der Schlange als auch der Wasserschlange gebraucht, daneben auch als abwertende Bezeichnung für einen sündig-befleckten Menschen, aber auch für wachsames und schnelles Handeln. Es weist im Physiologus einen Bedeutungsreichtum auf, der eine bloße Übersetzung bei weitem übersteigt. Bei der Arbeit an diesem Wort gab es immer wieder Neues und Spannendes zu entdecken und der Vergleich des ahd. Physiologus‘ mit seinen lateinischen und griechischen Vorbildern brachte manch Unerwartetes ans Licht. Jeden, der Lust auf mehr bekommen hat, erwartet mit dem Physiologus ein wunderbar vielfältiger Text, der sich auf jeden Fall zu lesen lohnt. Also ran ans Werk – und bereit zu staunen!

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Literatur

  • Maurer, Friedrich (Hrsg.). 1967. Der altdeutsche Physiologus: Die Millstäter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus). Altdeutsche Textbibliothek 67, S. 75-90. De Gruyter.

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Marburger Repertorien